"Denk daran: Würmer darfst du nicht zerkauen." Der Hunger in russischer Gefangenschaft tötet langsam
Zuerst waren es Toilettenpapier und Seife. Dann kamen Würmer und Mäuse. Es gibt nichts, was ein Mensch nicht essen würde. Russische Gefangenschaft bedeutet den Gestank von Durchfall, Läusen und Juckreiz. Aber das Schlimmste von allem ist der Hunger.
Das Klirren von Aluminiumkannen hallt durch den Flur. Schwere, 25-Liter-Gefäße schlagen immer wieder gegen die Treppenstufen, während der "balandzior" – im Gefängnisjargon der Kriminelle, der das Essen verteilt – sie in den Keller hinunterträgt.
Klirren, Stufe. Klirren, die nächste. Diese dumpfen, metallischen Schläge reißen die Gefangenen aus ihrem Halbschlaf und ihrer Benommenheit. Auf den eingefallenen Gesichtern regt sich ein Hauch von Lebendigkeit. Das Mittagessen naht! Jemand wagt einen Scherz: "Mal sehen, was es heute gibt."
Andere greifen das Thema auf. Sie zählen Gerichte auf und erzählen, wo und wann sie diese gegessen haben. Solange die Kannen auf dem Flur klirren, können sie sich für einen Moment in Gedanken in ein Restaurant in Kiew, eine Pierogi-Bar in Posen oder ein Steakhaus in Dnipro versetzen.
Einst maß Wlad, um sich die Zeit zu vertreiben, seine Zelle aus: sechs Meter lang, drei Meter breit.
"Etwa 18 Quadratmeter. Zu Hause hatte ich ein größeres Zimmer", stellt er fest.
Er rechnet weiter. "Wenn in der Zelle 24 Gefangene sind, hat jeder 0,75 Quadratmeter Platz."
Ein Großteil dieses Raums wird von unbenutzten doppelstöckigen Pritschen eingenommen. Die Metallstreben schneiden schmerzhaft in die ausgemergelten Körper, denn es gibt nur sieben Matratzen (0,29 Matratzen pro Person, wie Wlad berechnet).
Abends legen die Gefangenen alle Matratzen auf den Betonboden. Sie legen sich seitlich hin, eng aneinander gekuschelt. Die Enge hat einen Vorteil: Es ist nicht kalt.
Das einzige Fenster der Zelle, direkt unter der Decke, hat eine zerschlagene Scheibe. Im Winter dringen durch sie eisige Windböen ein, und die Temperatur in der Zelle sinkt unter null, wie Wlad jedes Mal feststellt, indem er auf das gefrorene Wasser in einem Becher zeigt. Nachts glitzert der Frost auf den blaugrünen Farbflecken, die noch an den Wänden haften.
Die Gefangenen verbringen die meiste Zeit schweigend, betäubt von der Kälte und dem nagenden Hunger. Nur das Klirren der Aluminiumbüchsen, das eine Mahlzeit ankündigt, reißt sie kurzzeitig aus ihrer Apathie. Der "balandzior" hat sie bereits in den Keller gebracht, und jetzt hört man das gequälte Quietschen eines Wagens und das Klappern der Futterluken, durch die das Essen ausgeteilt wird. "Mit so einer Ungeduld warten Kinder auf Weihnachten", denkt Wlad.
Worauf kann ein Gefangener warten?
- Frühstück: ein Glas mit Wasser verdünnter Milch
- Zweites Frühstück: zwei Scheiben Schwarzbrot
- Mittagessen: eine Kelle Suppe
- Abendessen: drei Löffel Gerstengrütze
Insgesamt etwa 500 bis 600 Kalorien. Das Mittagessen ist am schlimmsten: eine trübe Flüssigkeit ohne Geschmack oder Geruch. Manchmal schwimmt ein Kohlblatt darin, seltener ein Stück Kartoffel oder ein paar Grützkörner. Ein oder zweimal fanden sie ein Hühnerhäutchen. Unbeschreibliche Freude! Fleisch! Vitamine! Nur der Diensthabende in der Zelle hat ein Problem: Wie teilt man die Haut gerecht auf, wenn 24 hungrige Augenpaare jede Bewegung verfolgen?
Der Wagen quietscht immer näher. Jetzt ist deutlich das Falsett des "balandzior" zu hören.
"Igorek", sagt einer der Gefangenen.
Es gibt mehrere "balandziory" im Gefängnis. Einige sind neutral, andere voller Hass. Igorek übertrifft sie alle. Er ist 23 Jahre alt und wegen Waffenhandels verurteilt. Klein, ausgemergelt von Meth oder einem anderen Gift, mit einem nichtssagenden Gesicht. Er sieht aus wie ein typischer Prolet aus einem Donetzker Viertel.
Wenn er in den Keller zu den Gefangenen hinabsteigt, fühlt er sich wie ein Gott. Mit der Kelle regiert er uneingeschränkt. Er entscheidet, wer Suppe vom Topfboden bekommt und wer mit leerem Magen bleibt.
Wenn die Futterluke sich öffnet, stehen die Gefangenen stramm. Hände entlang des Körpers, Rücken gerade, Blick auf den Boden gerichtet.
"Verdammte Ukros! Wollt ihr was zu essen? Macht mir eine Show!"
Igorek liebt es, Macht zu spüren, aber im Gegensatz zu den Wächtern hat er keinen Einfallsreichtum. Wenn den Wächtern langweilig ist, legen sie ihre "Arbeitsutensilien" auf den Tisch: Gummiknüppel, Metalllineale, Plastikrohre. Sie foltern langsam, mit perverser Hingabe. Sie perfektionieren ihr Handwerk. Eine besondere Leistung ist es, wenn am Körper eines Gefangenen keine unverletzte Stelle bleibt.
Igoreks Fantasie reicht nur für Wettbewerbe: Welche Zelle singt die russische Hymne schöner oder schafft schneller 400 Kniebeugen? Manchmal, aus Mangel an besseren Ideen, verlangt er, ihm den Gefangenen mit dem kleinsten Penis zu zeigen. Oder er befiehlt, drei Stunden auf dem eiskalten Boden zu liegen.
Diesmal will er eine Show. "Singen!" brüllt er durch die Luke. Doch verdächtig schnell gibt er auf. Die Kelle schlägt gegen die Kannen. Igorek reicht dem Diensthabenden gerade einen Plastikeimer mit Flüssigkeit – und wirft ihn plötzlich auf den Boden. Die Suppe schwappt und ergießt sich über den Boden.
"Ihr Wichser! Heute gibt es kein Mittagessen!" Er bricht in Gelächter aus.
Wlad war vor der Gefangenschaft professioneller Sprinter. Jetzt ist er 27, hat 848 Tage in russischer Gefangenschaft verbracht. Aus einem durchtrainierten Athleten ist ein abgemagerter Mann mit dystrophischem Körper geworden.
"Der Hunger", sagt Wlad, "verlässt dich nie. Er tötet langsam, jeden Tag ein bisschen mehr. Weißt du, was Hungerwahn ist? Ich werde es erzählen, aber viele werden sich später dafür schämen. Ich auch."
BROT
Eine Zelle im Keller, auf dem Flur das Klirren der Kannen.
Wlad schweift mit seinen Gedanken nach Hause. In seiner Kindheit verstand er nie, warum seine Großeltern eine so ehrfürchtige Haltung gegenüber Brot hatten.
Der Kühlschrank war immer voll, doch sie zitterten um jeden Krümel. Eine Scheibe, die auf den Boden fiel, wurde geküsst und zurück auf den Tisch gelegt. Es wirkte etwas eigenartig, doch wahrscheinlich war es die Trauma des Holodomor.
"In der Gefangenschaft habe ich es begriffen: Brot ist alles. Es bedeutet Überleben. Es ist Währung, Strategie, Anlass für erbitterte Kämpfe und philosophische Diskussionen", sagt Wlad.
Die Futterluke öffnet sich mit einem Knall. Der bałandzior wirft mit einer schwungvollen Bewegung die Tagesration hinein: zwei Scheiben pro Kopf. Der Diensthabende springt auf, um das Brot im Flug zu fangen, doch es landet dennoch auf dem Boden. Es ist dunkel, fast schwarz und immer halb roh. Es zerfällt in kleine Stücke.
Der Boden ist klebrig vor Schmutz und dem Dreck aus der undichten Kanalisation. Der Diensthabende sammelt alles auf. Zuerst teilt er die größeren Stücke aus, dann die Krümel.
Jeder schleppt sich zurück an seinen Platz an der Wand. Ab da ist es eine Frage der Strategie.
Einige essen das Brot hastig, um die Leere im Magen so schnell wie möglich zu füllen. Sie spüren für einen Moment Erleichterung. Doch sobald der Magen wieder leer ist, füllen sie ihn mit Wasser. Der Durchfall macht sie fertig.
Andere essen über Tüchern, die aus zerrissenen Kleidern gefertigt sind, damit kein Krümel verloren geht. Diese Tücher falten sie sorgfältig zusammen und stecken sie in ihre Taschen. Vielleicht sammeln sie innerhalb einer Woche einen halben Löffel Krümel. Ein wertvoller Zusatz für die Suppe.
Diejenigen, die Willenskraft haben, trocknen das Brot. Eine trockene Scheibe kann über den ganzen Tag gestreckt werden. Stück für Stück zupfen, lange lutschen und dann langsam kauen. Sie erleben keine Hungerschübe, keine panischen Fressanfälle, aber satt werden sie nie. Ihr Hunger ist konstant. Ein permanenter Schmerz, wie Zahnschmerzen.
DELIRIUM
Ein Zentrum für soeben befreite Gefangene. Die Sonne brennt, doch Wolt trägt eine dicke, warme Sweatshirtjacke. Als er unsere kurzärmeligen Shirts sieht, fragt er ungläubig: "Ist euch wirklich nicht kalt?"
Wie Wład geriet er am Tag des Falls von Mariupol in Gefangenschaft.
"Als wir aus dem Asowstal herauskamen, sagte man uns, das Rote Kreuz garantiere unsere Sicherheit, und die Gefangenschaft werde ehrenhaft sein."
Nach einem Jahr wog ich 42 Kilogramm.
Taganrog, Untersuchungshaft. Die Zeit zwischen den Mahlzeiten zieht sich endlos dahin. Der Kopf ist wie von Nebel umhüllt, und nur ein Gedanke dringt hindurch: Essen, essen, essen!
Einer der Gefangenen hat glühende Augen. Er sagt mit todernster Stimme: "Wenn ich nach Hause komme, werde ich in einer Schokoladenfabrik arbeiten. Ich stelle mich ans Ende des Förderbands und esse, bis ich nicht mehr kann."
Ein anderer überlegt kurz und erwidert: "Ich schließe einen Vertrag mit einer Bäckerei. Jeden Tag liefern sie mir einen Bus voller warmem Brot. Und ich werde essen, essen, essen."
Wolt ertappt sich bei dem Gedanken, dass das reines Delirium ist. Er würde gerne schlafen, aber mit leerem Magen geht es nicht. Der Körper ist steif, die Nerven zum Zerreißen gespannt.
Zum Abendessen gibt es Gerstengrütze. Drei Löffel. Sie bedecken kaum den Boden des Tellers. Du willst sie sofort essen, aber du weißt, das bringt nichts. Nein, besser warten. Du holst das Endstück eines Brotes hervor, das du im Matratzenbezug versteckt hast. Du mischst die Brotkrume mit der Grütze und steckst sie wieder in die Scheibe. Am dritten Tag wird sie voll sein.
Dann bleibt nur die Wahl des richtigen Moments zum Essen. Nicht am Morgen, weil du es zu schnell verdauen würdest. Mittags auch nicht, denn sie könnten dich jederzeit zu einem Verhör holen. Ein paar Elektroschocks an den Genitalien, und du übergibst dich. Drei Tage Entbehrung wären umsonst gewesen.
Nein, am besten isst du abends. Du legst dich auf die Pritsche, schließt die Augen und genießt jeden Bissen langsam. Du spürst die Wärme und das Wohlgefühl eines vollen Magens. Beim letzten kleinen Stückchen driftest du weg. Das nächste Mal wirst du erst in drei Tagen wieder Sättigung fühlen.
JAGD
Wladysław Zadorin: "Erinnerst du dich an den Kultsatz ‚Russkij wojennyj korabl, idi na ****‘? Ich war damals dort, auf der Schlangeninsel."
"Am ersten Tag der Invasion geriet ich in Gefangenschaft. Nach 679 Tagen kam ich zurück, 60 Kilogramm leichter. Jetzt weiß ich, es gibt nichts, was ein Mensch aus Hunger nicht essen würde."
Kursk, Untersuchungshaft. Jede plötzliche Bewegung führt zu einem Zusammenbruch. Du spürst einen widerlichen süßen Geschmack im Mund, und der Film reißt ab. Nächste Szene: Jemand klatscht dir ins Gesicht.
Der Hunger wandelt sich von Delirium und Ohnmacht in Wut. Es gibt keine Moral, keinen Ekel mehr. Nur einen tierischen Instinkt, der befiehlt: Beschaffe Essen!
Du lässt deinen hungrigen Blick durch die Zelle schweifen. Toilettenpapier ist das erste, das herhalten muss. Die Jungs schlucken es in Stücken hinunter. Es füllt den Magen, aber blockiert den Darm. Sie winden sich vor Schmerzen, haben Verstopfung und Hämorrhoiden, essen aber weiter Papier.
Ich greife zur Zahnpasta. Ich schmiere sie aufs Brot. Sie schmeckt himmlisch. Süß und fruchtig, wie ein Dessert. Es brennt im Magen, aber ich kann nicht aufhören. Mein Blick fällt gierig auf das graue Stück Seife am Waschbecken. Ich denke: Da muss Eiweiß drin sein. Russland ist mental noch die Sowjetunion, vermutlich stellen sie Seife immer noch aus Hundefett her.
Den ersten Wurm isst Romczyk, ein 20-jähriger Gardist. Angeblich aus Spaß, um eine Wette zu gewinnen. Bald steht eine Schlange für die Würmer an. Wir züchten sie unter der Toilette, gießen Wasser darauf, damit sie sich besser vermehren. Dieser Wurm ist für mich, jener für dich. Denk nur daran: Nicht auf die Zunge legen und nicht kauen. Sie schmecken bitter.
Nach und nach beginnen die Jungs, auf Mäuse zu jagen. Nacht. Du streust ein paar Krümel auf den Boden. Wartest, bis du das Piepsen hörst. Jetzt! Konzentration. Du musst einen präzisen Wurf machen. Der Plastikteller landet genau, die Maus ist in der Falle.
Du holst sie heraus, betäubst sie. Am Morgen ziehst du ihr die Haut ab, wirfst die Innereien weg. Viel Fleisch ist nicht dran. Du nagst alles ab. Die anderen Soldaten drehen sich weg. Aber schließlich geben auch sie zu: Diejenigen, die Mäuse essen, haben keine Hungerohnmachtsanfälle mehr.
Ich beneide diese Jungs, aber ich kann mich nicht überwinden. Mein Blick fällt auf eine Taube, die manchmal auf dem Fenstersims sitzt. Gebratene habe ich schon mal gegessen. Roh könnte ich sie auch essen. Ich streue Krümel zwischen die Scheibe und das Gitter. Verstecke mich hinter der Wand. Eine schnelle Bewegung, aber die Federn entgleiten meinen Händen. Heute muss ich mich mit einer Schnecke zufriedengeben. Sie schmeckt gar nicht schlecht, nur der Schleim ist unangenehm. Ich streiche ihn auf eine Scheibe Brot.
SPASS
Igor: "Früher war ich ein erfolgreicher Mensch. Ich führte ein Unternehmen, engagierte mich in der Lokalpolitik. Alles lief wie am Schnürchen. Jetzt fühle ich mich wie ein Niemand, ein Mensch ohne Würde."
"801 Tage verbrachte ich in Gefangenschaft. Jeder einzelne war die Hölle.
Ich weiß nicht mehr, wie oft die Russen mich zur Hinrichtung führten. Anfangs war es wie in Vietnam-Kriegsfilmen: Sie halten uns in Käfigen, knietief im Wasser. Dann, schrittweise, wurde ich in eine Strafkolonie in der Oblast Wladimir verlegt.
Die Wärter waren sadistisch bis ins Mark. Das Brot brachten sie ungleichmäßig geschnitten. Einer bekam ein größeres Stück, ein anderer ein kleineres. Der Instinkt befahl: Kämpfe ums Überleben. Die Menschen fielen übereinander her. Für die Wärter ein Riesenspaß.
Oder ein anderes Beispiel: Ein Tag ohne Brot. Die Suppe rinnt durch den Magen wie ein Glas warmes Wasser. Drei Löffel Grütze verschwinden in einer Sekunde.
Einige bekommen panische Hungeranfälle, andere verfallen in Apathie. Sie schlafen im Stehen. Plötzlich öffnet sich die Futterluke. Der bałandzior wirft Brotlaibe in die Zelle. Du reibst dir die Augen vor Staunen, ein Brot nach dem anderen landet auf dem Boden. Für jeden Gefangenen ein ganzer Laib! Essen, essen, essen! Du reißt Stücke ab und schiebst sie in deinen Mund.
Der Wärter befiehlt: ‚Ihr habt Zeit bis zur Abendkontrolle.‘
Du schaust auf die Uhr: 15 Minuten, um einen ganzen Laib zu essen. Die Hälfte verschlingst du in einem Atemzug. Du bist immer noch hungrig, aber dein Magen ist so klein wie eine Faust. Du spürst schon das Kratzen im Hals. Du grübelst wie ein Tier in der Falle. Den Rest verstecken? Nachts essen? Aber wenn der Wärter ihn findet, prügelt er dich bewusstlos. Abgeben? Niemals! Lieber geschlagen werden als hungern.
Eine Stunde vergeht. Die Gesichter der Gefangenen werden weiß wie Kreide. Der Magen verdaut nicht. Erbrechen, Durchfall. Es gibt nur eine Toilette, die in der Ecke steht, ohne jegliche Abtrennung. Einer setzt sich, der nächste reißt ihn sofort weg: ‚Steh auf!‘
Ein anderer schafft es nicht mehr bis zur Reihe. Der Gestank ist so unerträglich, dass du nicht atmen kannst.
Die Futterluke schlägt auf. Der Wärter lacht höhnisch: ‚Na, habt ihr euch eingekackt?‘
Jetzt verstehst du, warum das alles passiert ist. Du fühlst dich entwürdigt.
ÖDEM
Wlad: "Ich wusste nicht, dass ein Mensch Fischgräten essen kann. Doch, kann er. Rücken, Schwanz – du isst alles, was Eiweiß hat."
"Einmal schwamm ein Schweineknochen in der Suppe. Wir brachen ihn, saugten daran, bissen wie Hunde darauf herum. Bei einigen brachen die Zähne. Sie wechselten die Seite und bissen weiter."
"Ich hätte Toilettenpapier oder sogar Seife essen können. Aber diesen Luxus hatten wir in der Zelle nicht. Wir waren hungrig, zerlumpt und schmutzig."
"Winter, Minustemperaturen in der Zelle, und wir in T-Shirts, Shorts und zerrissenen Socken. Die Kleidung, die wir bekamen, war ungewaschen, roch nach Schweiß und Ausfluss. In den Nähten nisteten sich Läuseeier ein. Wir hatten Krätze. Nach dem Ausschalten des Lichts bewegte sich der gesamte Boden in der Zelle. Ratten, Mäuse, Kakerlaken, Wanzen. Nachts kratzten wir die Bissstellen blutig, und morgens standen wir mit eitrigen Wunden auf. Wir verrotteten bei lebendigem Leib."
"In zehn Monaten im Gefängnis von Donezk durften wir nie nach draußen. Nur dreimal konnten wir uns waschen. Erst in der Dusche wurde mir klar: Wir sind Skelette, mit bleicher Haut überzogen."
"Eingefallene Wangen, hervorstehende Schlüsselbeine, Rippen, die sich abzeichnen, und Bäuche, geschwollen und weich wie Gelee. Die Beine so geschwollen, dass sie vom Knie bis zu den Zehen fast einen rechten Winkel bildeten. Später, nach dem Austausch, erklärte der Arzt: Das ist Hungerödem, auch Proteinmangelödem genannt. Eine vollständige Störung des Körpers durch Unterernährung. Während des Holodomor, als es verboten war, den Hungertod zu registrieren, wurde Ödem in die Sterbebücher als Haupttodesursache eingetragen."
"Die Sinne stumpfen ab. Das Sehen wird wie durch einen Tunnel, alles wirkt wie durch einen Spion. Du hörst immer schlechter. Ständig wird jemand ohnmächtig. Es gibt keine Kraft mehr, die zweite Etage der Pritsche zu erklimmen.
Du willst nur schlafen, aber tagsüber darfst du nicht einmal sitzen. Wir lernen, im Stehen in einen lethargischen Zustand zu fallen. Es fehlt die Kraft zu denken, du erinnerst dich nicht an Namen oder Daten.
Ein Verhör, der Ermittler fragt:
'Geburtsdatum deiner Mutter?‘
'Ich weiß es nicht mehr.‘
'Wie alt bist du?‘
'Ich weiß es nicht mehr.‘
'Wo hast du gedient? Deine Einheitsnummer?‘
'Ich weiß es nicht mehr.‘
Du kehrst blutüberströmt in die Zelle zurück. Du bist am Ende. Ein Gedanke beherrscht deinen Kopf: Essen, essen, essen! Wie weit kannst du gehen, um deinen Magen zu füllen? Du versuchst, dich zu beherrschen, denkst daran, dass du eines Tages nach Hause zurückkehren wirst. Aber dann fragst du dich: Wirst du dir selbst in die Augen sehen können?"
WAHNSINN
Eine Zelle im Keller. Der bałandzior Igorek schleudert den Suppeneimer auf den Boden. Die resignierten Gefangenen ziehen sich zurück und lehnen sich an die Wände. Doch Sashka hat etwas vor. Er bewegt sich immer näher zur feuchten Pfütze. Beugt sich, als würde er etwas aufheben. Dann verlieren sich seine Hemmungen. Auf allen Vieren sammelt er Grützkörner und Kohlblätter vom Boden.
Der Anblick löst Ekel aus, aber niemand sagt etwas.
Wlad: "Damit fing es an."
Ein paar Tage später wachen wir morgens auf. Der bałandzior bringt "Milchgrütze", also eine Flüssigkeit in Milchfarbe. Die Jungs greifen nach dem getrockneten Brot im Schrank. Plötzlich erstarren sie. Jeder Brocken ist angebissen. Bei einem fehlt die Kruste, bei einem anderen wurde das Innere ausgehöhlt. Schweigen breitet sich aus. In der Zelle sind nur Azowzy.
Schließlich bringt jemand hervor: "Wahrscheinlich war’s eine Ratte."
Die anderen nicken, aber ohne Überzeugung. In der Nacht halten sie Wache. Sashka wird auf frischer Tat ertappt. Es folgt eine Beratung. Was tun? Wie bestraft man jemanden, mit dem man die Hölle von Asowstal durchlebt hat? Doch Ordnung muss sein. Sashka bekommt eine Verwarnung. Beim zweiten Mal muss er den Dreck außerhalb der Reihe aufräumen. Beim dritten Mal reißen die Nerven, und die Fäuste fliegen.
Doch an Sashka perlt alles ab wie Wasser von einer Ente. Er spricht mit niemandem mehr. In seinen hervorstehenden Augen glüht der Wahnsinn des Hungers. Er wartet nur auf den Moment, um jemandes Krümel zu stehlen.
Die Jungs packen ihr Brot in Plastiktüten, verstecken es unter den Kissen. Das Brot trocknet nicht mehr, sondern schimmelt. Und trotzdem essen sie es. Sie übergeben sich, haben Durchfall, aber sie essen weiter.
DIE WÄRTER
"Wolt": "Der Hunger holte das Schlechteste aus den Menschen heraus. Wenn jemand einen Riss in seiner Persönlichkeit hatte, dehnte der Hunger ihn zu einem Abgrund aus."
"In einer Zelle war ein Kerl, groß wie ein Berg. Er nahm den Schwächeren das Essen weg.
Ein anderer verkaufte sich für eine Portion Suppe.
Abends hallte Petras Stimme durch den Flur: ‚Gospodin naczalnik!‘ (Russisch für ‚Herr Kommandant‘, die einzige Anredeform für die Wärter). ‚Erlauben Sie eine doppelte Portion, ich muss meine Kräfte regenerieren, bevor ich den russischen Streitkräften beitrete!‘
Oder ein anderes Beispiel: ‚Gospodin naczalnik! Erlauben Sie ein Treffen mit dem Ermittler. Ich habe mich erinnert, wer auf die Zivilisten im Donbass geschossen hat.‘
Nach einer Stunde kam er mit einem widerlichen Grinsen zurück. Auf dem Schreibtisch des Ermittlers gab es Bonbons. ‚Wir sollten diejenigen belasten, die sie schon ausgetauscht haben‘, ermunterte er andere."
Wladysław Zadorin: "Was kannst du nach zwei Jahren Gefangenschaft wissen? Stellungen? Waffen? Nein. Die Ermittler ging es nicht um nachrichtendienstliche Informationen. Sie konstruierten für jeden einen Strafprozess. Zivilisten im Donbass ermorden, alte Frauen vergewaltigen, Kinder kreuzigen. Orwell hätte sich das nicht ausdenken können.
Sie suchten sich in den Zellen die schwächste Person aus und quälten alle, bis sie zusammenbrach. Kein Essen, übermäßige Prügel. Die Botschaft war einfach: ‚Seht, das ist seine Schuld.‘
Wenn sie bekamen, was sie wollten, belohnten sie ihre Favoriten. Die Zelle bekam volle Schüsseln, zusätzliche Brotscheiben. Immer auf Kosten anderer. Wenn einer mehr bekam, blieb ein anderer hungrig."
AGONIE
Wlad: "Wir alle streiften den Wahnsinn. Du wachst nachts auf, schaust deinen Freund an, und er starrt mit eingefrorenem Gesichtsausdruck an die Decke. Du sagst etwas, aber er antwortet nicht.
Am Morgen lauschst du dem Klirren der Aluminiumkannen. Der Wagen quietscht monoton. Du wartest auf deine Portion Flüssigkeit. Welchen Sinn hat das? Du isst, nur um deine Agonie zu verlängern. Wozu dieses Leiden?
Doch sich das Leben zu nehmen, ist noch schwieriger als weiterzuleben.
Einer der Jungs hat einen Rasierer auseinandergenommen. Er versuchte, sich mit der Klinge die Kehle durchzuschneiden. Die Wärter prügelten ihn bewusstlos. Ein anderer zog einen Kordelzug aus seiner Hose. Er wollte sich erhängen. Die Schnur riss, und er schlug sich den Kopf auf.
Wladysław Zadorin: "Das war im Sommer 2023. Verhör, Schläge, Elektroschocker. Ich fühlte, wie ich starb. Ein widerlicher süßer Geschmack im Mund, meine Kraft verließ mich. Plötzlich überkam mich eine Wut. Ich sprang auf und ging auf den Wärter los. ‚Tötet mich oder lasst mich frei! Ich kann nicht mehr!‘
Ich kam in einer Isolationszelle wieder zu mir, völlig nackt. Die Wände und der Boden waren mit Gummi ausgekleidet. Kein Licht, keine Ahnung, ob Tag oder Nacht war. Zwei Tage lang bekam ich nichts zu essen und verrichtete meine Notdurft unter mir."
MENSCHEN
"Wolt": "Ein Wärter scherzt: ‚Hey, du! Auschwitz! Ich würde dich in Rauch aufgehen lassen!‘
Die anderen brechen in Gelächter aus, nennen uns Nazis. Dann hungern sie uns aus, prügeln uns, entwürdigen uns. Für sie sind wir keine Menschen. Das Schwierigste ist, nicht selbst daran zu glauben.
Ich lernte, meine Gedanken zu kontrollieren. Anstatt ans Essen zu denken, stellte ich mir meine Familie vor. Ich träumte, dass ich einen Camper der Marke Tucson habe, mit Stromgenerator, Grill, Zelt, Schlafsäcken, Isomatten und unbedingt einer kleinen Motorsäge. Mein Magen knurrte, und ich stellte mir vor, wie ich mit meiner Frau und meinem Sohn durch Europa reiste."
Wlad: "Einige geben sich ihren tierischen Instinkten hin und sinken tief, andere bleiben selbst unter diesen unmenschlichen Bedingungen Mensch. In der Zelle war die Temperatur unter null. Das Wasser im Glas war gefroren. Ich verlosch langsam. Ich hatte keine Kraft mehr. Mein Kommandant, ein Offizier, umarmte mich jede Nacht mit seinem ganzen Körper, wärmte mich, rieb meine tauben Füße. Ich schäme mich nicht zu sagen: Mit meiner Verlobten habe ich nie so eng geschlafen. Er hat mir das Leben gerettet."
RÜCKKEHR
Eine Zelle im Keller.
Ende Juli ändert sich plötzlich alles. Wład spürt, dass etwas nicht stimmt. Die Wärter schlagen nicht mehr. Statt des Ermittlers sitzt ein russischer Offizier am Schreibtisch.
"Fährst du zum Austausch oder bleibst du?" fragt er.
Fassungslosigkeit. Die Knie geben nach.
"Ich fahre, Herr Kommandant!"
Wład: "Nachts kann ich nicht schlafen. Ich lausche jedem Geräusch, das vom Hof herkommt. Nach zehn Tagen werde ich in ein anderes Gefängnis gebracht. Zum ersten Mal seit zehn Monaten sehe ich die Sonne. Sie blendet – meine Augen sind das Tageslicht nicht mehr gewohnt. Ich gehe unaufhörlich im Hof spazieren, drehe Kreise, fühle mich, als würde ich über dem Boden schweben.
Einige Gefangene können vor Nervosität kein Wort herausbringen. Andere reden ohne Unterlass. Die letzten Stunden sind die längsten. Erst im Flugzeug spüre ich Erleichterung. Es passiert wirklich! Ich habe überlebt! Ich kehre zurück!"
Der Austausch an der Grenze. Euphorie, vertraute Gesichter aus der Brigade. Wohin du dich auch drehst, Dutzende Hände strecken dir Essen entgegen. "Probier das, iss das." Ich nehme zwei Tomaten. Meine Geschmacksknospen explodieren. Die ersten frischen Gemüse seit zwei Jahren.
Doch die Emotionen lassen schnell nach.
SCHULD
Wladysław Zadorin: "In den ersten Tagen aß ich, übergab mich, und aß wieder. Ich fühlte nichts. Ich hatte mir die Rückkehr aus der Gefangenschaft wie eine ergreifende Szene vorgestellt. Umarmungen, Freudentränen. Beim ersten Treffen sah ich meine Eltern wie Fremde an. Keine Gefühle, keine Emotionen. Weder Gut noch Böse. Nur Scham. Und Schuld.
In der Zelle war ein Junge mit mir, schon stark abgemagert. Er wurde jeden Tag schwächer. Er hätte den Austausch sicher mehr verdient als ich."
"Der Psychologe erklärt mir: Das ist die Überlebensschuld, ein normales Phänomen. Angeblich ist es auch normal, dass ich ein Jahr nach dem Austausch, wenn ich Hunger spüre, immer noch Panikattacken bekomme. Meine Hände zittern, mein Herz rast wie verrückt. Ich denke, gleich öffnet sich die Tür, und sie bringen mich wieder zum Verhör.
Ich suche nervös in meinen Taschen. Irgendwo muss doch ein Snickers sein. Ein Bissen, ein zweiter. Alles wieder gut. Es ist doch alles in Ordnung, oder?
Ich bin 25 Jahre alt und ein Kriegsinvalide. Geschlossene Schädelverletzungen (zu viele Flaschen, die darauf zerschlagen wurden), Rückenmarksverletzungen (mit einem Hammer zertrümmerte Wirbel), Gallenblase entfernt (die meisten Gefangenen leiden an Gallensteinen, verursacht durch Unterernährung)."
DER TELLER
Ein Zentrum für befreite Gefangene. Ein weitläufiger Hof mit Bänken und Pavillons.
Włads Tag ist stundenweise durchgeplant: Untersuchungen, Infusionen, Behördengänge.
Das Schlimmste scheint vorbei, aber du fühlst dich erdrückt. Du kommst mit nichts hinterher. Du verstehst nichts.
Langsam nähert sich die Mittagszeit. In der Kantine wartet ein hausgemachtes Mittagessen. Eine reichhaltige Gemüsesuppe, Braten mit Kartoffeln und zartem Schweinefleisch, ein Salat mit Makrele und geriebenem Käse, Kompott, Kaffee, Kuchen. Weißbrot mit knuspriger Kruste. Du darfst essen, so viel du willst, und alles schmeckt hervorragend. Aber der Magen spielt nicht mit.
Wład stochert mit der Gabel in den Kartoffeln. In seinem Kopf herrscht Chaos. Das Unterbewusstsein schreit: "Iss, bevor der Hunger zurückkehrt." Doch der Körper sagt: "Stopp, die Kartoffeln stecken schon in der Kehle fest."
Er versucht, vom Tisch aufzustehen, aber er kann sich nicht bewegen. Die Schuld lastet wie ein Fels auf ihm. Er weiß genau, was gerade im Keller der Gefangenen geschieht. Auf dem Flur hallt das Klirren der Kannen. Der bałandzior schüttet eine geschmacklose Flüssigkeit in den Eimer. Der Diensthabende teilt die Kohlblätter aus. Der Hunger in russischer Gefangenschaft tötet langsam, aber zuerst raubt er jede Würde.
Wład blickt auf seinen vollen Teller. Er zwingt sich, einen weiteren Löffel hinunterzuschlucken.
***
Ukraine. Untersuchungshaftanstalt in der Oblast Sumy.
Der Leiter der Einrichtung führt uns durch die Zellen, in denen russische Gefangene auf ihren Austausch warten. Sie wurden während der Kursker Operation gefangen genommen.
In jeder Zelle sitzen ein Dutzend Männer. An den Wänden stehen doppelstöckige Pritschen, in der Mitte ein großer Tisch mit Bänken. Bei einer der Inspektionen stellten Mitarbeiter des Roten Kreuzes fest, dass eine nicht abgetrennte Toilette die Würde der Gefangenen verletze. Sie stellten Mittel bereit, und die Haftanstalt führte Renovierungen durch.
"Jetzt kommen sie von Zeit zu Zeit zurück, um die Russen zu wiegen. Sie wollen wissen, ob sie an Gewicht verloren haben", sagt der Leiter der Anstalt.
Nach Angaben von Igor und "Wolt" kontrollierten auch Mitarbeiter des Roten Kreuzes die Gefängnisse, in denen sie festgehalten wurden. Doch sie gelangten nie bis zu ihren Zellen.
Igor: "Wir waren so ausgemergelt, dass man uns in einem ungenutzten Flügel versteckte. Durch ein Loch im Boden konnte ich die Zelle der Nachbarn im Stockwerk darunter sehen."
Laut den Daten des ukrainischen Hauptquartiers für Kriegsgefangene befinden sich mehr als 8.000 Militärangehörige in russischer Gefangenschaft. Tausende Soldaten gelten als vermisst. Die meisten von ihnen könnten in russischen Gefängnissen festgehalten werden. Bislang wurden 177 Todesfälle von Ukrainern in russischer Gefangenschaft bestätigt. Es gibt auch nachweislich Fälle von Selbstmorden. Diese Zahlen könnten jedoch nur einen Bruchteil der tatsächlichen Fälle darstellen.
Seit Beginn der Invasion gab es fast 60 Gefangenenaustausche. 3.767 Ukrainer kehrten nach Hause zurück.