EU‑Kompetenz in Gefahr: Draghi drängt auf milliardenschwere Reformen
Die europäischen Staaten haben Probleme mit der Konkurrenz auf den globalen Märkten. Der ehemalige italienische Premierminister und frühere Chef der EZB, Mario Draghi, hat einen Sanierungsplan vorgeschlagen, der nicht bei allen gut ankam.
14.09.2024 09:03
In dem Bericht, genauer gesagt in zwei Berichten von Mario Draghi, wurden die strukturellen Probleme der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten im Bereich der globalen Konkurrenz, insbesondere mit China und den USA, aufgezeigt. Unter den genannten Gründen waren unter anderem die sinkende Produktivität, geringe Innovationskraft, der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften, die hohen Energiekosten in Verbindung mit den Kosten der Energiewende sowie die Verbreitung unlauterer Konkurrenz im internationalen Handel. Als Lösung wurde die Notwendigkeit einer Investitionserhöhung um etwa 800 Milliarden Euro jährlich, was 4,7 % des EU-BIP ausmacht (zum Vergleich: Die Investitionen im Rahmen des berühmten Marshallplans betrugen etwa 2 % des BIP), hervorgehoben. Der Autor wies auch auf Probleme in der Verteidigung und der Rüstungsindustrie hin.
Europa: ein hervorragender Waffenimporteur
Draghi wies auf zwei besorgniserregende Phänomene hin. Erstens greifen die EU-Länder sehr gerne auf Waffen und deren Komponenten außerhalb der Gemeinschaft zurück, was offensichtlich die Entwicklung der EU-Wirtschaft einschränkt. Gleichzeitig investieren sie nur ungern in gemeinsame (und oft auch eigene) Projekte, was das lokale Forschungs- und Entwicklungspotenzial schwächt und zur Zersplitterung führt. Zum Beispiel wurden in der Zeit der verstärkten Verteidigungskäufe als Reaktion auf den russischen Einmarsch in die Ukraine (von Mitte 2022 bis Mitte 2023) 63 % der Verteidigungsaufträge in der amerikanischen Industrie und 15 % in nicht-amerikanischen, aber außerhalb der EU ansässigen Unternehmen platziert.
In einem ähnlichen Zeitraum gaben die EU-Staaten nur 4,5 % ihrer Verteidigungsausgaben insgesamt für Forschungs- und Entwicklungsarbeiten aus, etwa 11,8 Milliarden USD (10,65 Milliarden EUR), während in den USA 16 % der Verteidigungsausgaben (140 Milliarden USD, 126 Milliarden EUR, also um ein Vielfaches mehr) für diesen Zweck ausgegeben wurden. Die Krise wird dadurch verschärft, dass viele Staaten weiterhin die Erfüllung der NATO-Forderung, 2 % des BIP für Verteidigung auszugeben, verweigern (bis Ende 2023 haben 9 von 32 NATO-Ländern dies nicht erfüllt, wobei die Mehrheit davon EU-Mitglieder sind). Die bloße Erfüllung dieser Anforderung durch alle EU-Staaten hätte eine Erhöhung der EU-Verteidigungsausgaben um etwa 66 Milliarden USD (59,5 Milliarden EUR) zur Folge.
Im Bericht wurde betont, dass die Zersplitterung des organisatorischen Aufwands die Produktionszersplitterung verstärkt, z. B. wurden in die Ukraine 10 verschiedene Arten von 155-mm-Geschützen geschickt, wobei nicht alle dieselbe Munition verwenden. Die Rüstungsindustrie soll darüber hinaus überreguliert sein, ebenso wie viele andere Branchen.
Potenzielle Lösungen
Als Lösung für diese ungünstige Situation schlug der Autor eine Erhöhung der Investitionen in Forschungs- und Entwicklungsarbeiten, die Rüstungsindustrie (im Rahmen der erwähnten erhöhten Investitionsausgaben) sowie die Unterstützung der europäischen Industrieintegration vor. Draghi schlug auch eine breitere Nutzung des Mechanismus gemeinsamer Verteidigungsaufträge und die Einrichtung eines separaten Kommissars für die Rüstungsindustrie vor.
Seiner Ansicht nach sollten zudem die Vorschriften für öffentliche Aufträge geändert werden, um EU-Lösungen zu bevorzugen. Im Falle des Kaufs von Lösungen außerhalb der EU sollte man nach einem Modell suchen, bei dem viele EU-Staaten gemeinsam einkaufen, um bessere Bedingungen zu erzielen, z. B. hinsichtlich der Produktionsverlagerung in die EU, des technischen Supports usw.
Deutschland dagegen
Dem Plan von Draghi als Ganzem widersprechen unter anderem Deutschland, das der Schuldenaufstockung, die notwendig wäre, um das äußerst ehrgeizige Projekt zu finanzieren, abgeneigt ist. Man könnte sagen, dass der Skeptizismus gegenüber dem diskutierten Sanierungsplan für die EU in Deutschland parteiübergreifend geteilt wird, deren Wirtschaft im Übrigen verlangsamt. In Sachen Verteidigung scheint Berlin auf dem Zaun zu sitzen: Einerseits sind ihnen die Interessen der deutschen Rüstungskonzerne wichtig, andererseits wählen sie dort, wo es für Deutschland bequem ist, lieber Lösungen außerhalb der EU.
Der Plan als Ganzes enthält viele Elemente, die es wert sind, diskutiert zu werden. Im Bereich der Verteidigung muss man Draghi zustimmen, dass Europa zu wenig Geld für Verteidigung, einschließlich Forschungs- und Entwicklungsarbeiten und die Entwicklung der Industrie, ausgibt. Auch die Verteidigungszusammenarbeit im Bereich der Beschaffungen sollte ausgebaut werden, da die gemeinsame Bestellung trotz nicht immer guter Erfahrungen zahlreiche Vorteile bringen sollte.
Dies erfordert jedoch systemische Lösungen, die u. a. die Harmonisierung der Anforderungen an die Ausrüstung der einzelnen Armeen oder die Schaffung einheitlicher Beschaffungsverfahren erleichtern. Andererseits muss eine Zusammenarbeit mit Ländern außerhalb der EU nicht die EU-Wirtschaft gefährden, sondern kann eher die globalen Ambitionen der Mitgliedstaaten unterstützen. Ein Beispiel könnte das britisch-italienisch-japanische GCAP-Luftfahrtprogramm sein oder, falls es gelingt, die polnisch-koreanische Zusammenarbeit.
Die angestrebte Integration der europäischen Verteidigung, wenn auch potenziell vorteilhaft für die EU als Ganzes, birgt das Risiko, kleinere Akteure auf dem Markt zu schwächen oder sogar zu eliminieren. Dort, wo Draghi die USA als positives Beispiel nennt, suchen die Amerikaner heute nach Wegen, kleinere, innovativere Unternehmen wieder aufzubauen.