Ingenieur im Fadenkreuz: Gerald Bulls geheime Waffen-Pläne
Wer ermordete Gerald Bull? Der kanadische Ingenieur erlangte Bekanntheit als Schöpfer moderner Artillerie. Seine Projekte waren jedoch viel ehrgeiziger: von der Atmosphärenforschung über das Abschießen von Satelliten ins All bis hin zum Bau von Waffen, mit denen Saddam Hussein möglicherweise Israel hätte zerstören können.
06.10.2024 15:36
Ende 1990 und Anfang 1991 bereitete sich eine internationale Koalition auf die Befreiung Kuwaits vor, das vom Irak unter der Herrschaft Saddam Husseins besetzt worden war. Die Planer der Operation "Desert Storm" stießen dabei auf ein unerwartetes Problem: die GC-45-Haubitzen.
Die Artillerie, die dem irakischen Heer zur Verfügung stand, übertraf bei weitem die Ausrüstung, mit der die größten Weltmächte – die Vereinigten Staaten, Großbritannien oder Frankreich – in den Krieg zogen. Während die amerikanische 155-mm-Haubitze M109 Ziele in einer Entfernung von 19 Kilometern treffen konnte, hatte die irakische GC-45 trotz gleichen Kalibers einen überwältigenden Vorteil und konnte Ziele in fast 40 Kilometer Entfernung angreifen.
Der Verlauf der Operation Desert Storm zeigte schließlich, dass die Befürchtungen hinsichtlich der irakischen Artillerie übertrieben waren: Nachdem die Luftwaffe das irakische Aufklärungs- und Kommandosystem zerstört hatte, erwies sich die "geblendete" Artillerie – selbst die beste der Welt – als nutzlos. Doch wie kam es, dass das irakische Heer über Waffen verfügte, die die Konkurrenz weltweit deklassierten?
Dies war das Ergebnis der Zusammenarbeit, die das Hussein-Regime mit Gerald Bull eingegangen war – einem genialen kanadischen Ingenieur, der als Schöpfer moderner Artillerie in die Geschichte einging. Die Ironie des Schicksals wollte es, dass Bulls Lebensziel war, Geschütze zu bauen, die nicht auf Menschen, sondern in Richtung der Sterne schießen.
Von der Artillerie zur Atmosphärenforschung
Direkt nach dem Studium, seit den 1950er Jahren, beschäftigte sich Gerald Bull bei der CARDE (Canadian Armament and Research Development Establishment) mit Windkanälen und Schockwellen, die von fliegenden Artilleriegeschossen erzeugt wurden, sowie mit der Rakete Velvet Glove. Nach einem Streit mit seinen Vorgesetzten wechselte Bull jedoch seinen Arbeitgeber.
Bulls nächstes Projekt war HARP – ein Projekt zur Stratosphärenforschung, das mit Martlet-Forschungsprojektilen durchgeführt wurde, die in große Höhen geschossen wurden. Die Martlets entließen in großer Höhe eine Dipolwolke, die leicht vom Radar verfolgt werden konnte und so Informationen über die Windrichtung und -stärke in verschiedenen Höhen lieferte.
Mit einem alten, schiffseigenen Geschütz von 406 mm Kaliber zur Verfügung, schossen Gerald Bull und sein Team Monat für Monat immer perfektere Geschosse immer höher. Im Jahr 1966 stellte er einen Rekord auf, indem er in eine Höhe von 180 Kilometern schoss. Auch wenn das HARP-Programm wegen Budgetkürzungen und Regierungswechseln in Kanada eingestellt wurde, lieferte es wertvolle Daten über die oberen Schichten der Atmosphäre und den nahen Weltraum.
Von der Atmosphärenforschung zur Artillerie
Nach dem Ende des HARP-Programms wandte sich Gerald Bull der Waffenentwicklung zu. Bereits 1973 modifizierte er Geschosse für die 175-mm-Haubitze M107 so, dass diese auf eine Distanz von 50 Kilometern schießen konnten. Die modifizierten Geschosse wurden nach Israel geliefert, und für seine Errungenschaften erhielt der Ingenieur – auf Beschluss des Kongresses – die amerikanische Staatsbürgerschaft.
Trotz dieses Erfolges scheute Bull auf der Suche nach Finanzierung für seine Arbeiten keine Mühen – er zog nach Brüssel und arbeitete für jeden, der bereit war, zu zahlen. Die von ihm entwickelten GC-45-Haubitzen (und die darauf basierenden G-5-Modelle) sowie die modifizierte Munition gelangten nach Südafrika und trugen entscheidend zum Sieg dieses Landes über das kubanische Expeditionskorps in Angola bei.
Die innovative Artillerie gelangte nach China und auch in den Irak, wo sie im Krieg gegen den Iran eine wichtige Rolle spielte. Die von ihm entwickelten Technologien wurden weltweit nachgeahmt und weiterentwickelt. Die Zusammenarbeit mit dem Irak beschränkte sich jedoch nicht nur auf den Bau von Langstreckenhaubitzen.
Bulls Vision, mit einem großen Geschütz Satelliten ins All zu schießen, sprach Saddam Hussein an. Neben dem Waffenankauf begann der irakische Präsident die Arbeit an Geschützen zu finanzieren, die in ihrer Konstruktion an die deutsche Wunderwaffe V3 erinnerten – das Testgeschütz Baby Babylon und das endgültige, vollwertige Riesenmodell namens Big Babylon (es war geplant, mehrere Exemplare zu bauen).
Es handelte sich um ein kombiniertes Geschäft – der Irak finanzierte die Arbeit an Bulls Weltraumgeschützen und verlangte gleichzeitig, dass dieser die irakischen ballistischen Raketen des Typs Scud verbesserte, um deren Reichweite zu erhöhen. Der Konstrukteur stimmte diesem Arrangement zu.
Baby Babylon hatte ein Kaliber von 350 mm und ein Rohr von 45 Metern Länge. Die Testwaffe wurde fertiggestellt und ausprobiert, und auf Basis der durchgeführten Tests begann die Arbeit an einer größeren Version. Big Babylon sollte ein Kaliber von 1000 mm, ein Rohr von 156 Metern und ein Gewicht von über 1600 Tonnen haben. Laut Meinung des Konstrukteurs sollte das Geschütz 200-kg-Ladungen in eine niedrige Erdumlaufbahn schießen können, und zwar zu einem Bruchteil der Kosten, die die damalige Raketentechnologie erforderte.
Wer tötete Gerald Bull?
Am 22. März 1990 fiel Gerald Bull einem Attentäter zum Opfer – am Eingang zu seinem Brüsseler Apartment wurde er fünfmal in Kopf und Rücken geschossen. Die herbeigerufenen Polizisten fanden einen Schlüssel, der im Türschloss steckte, und einen Koffer mit über 20.000 Dollar (aktueller Gegenwert von 44.000 Euro), die den Mörder offensichtlich nicht interessierten.
Wer ermordete Gerald Bull? Laut der offiziellen Version, die Ergebnis der Ermittlungen war, wurde der Ingenieur von unbekannten Tätern erschossen. Doch schnell tauchten alternative Versionen auf.
Für seinen Tod wurden der Irak (wegen angeblicher Missverständnisse), Iran (wegen der Bedrohung durch die irakische Artillerie) und auch Israel (aus Sorge, dass Big Babylon eine gefährliche Waffe sein könnte und wegen der Bedrohung durch die verbesserten ballistischen Raketen Husseins) verantwortlich gemacht.
Diese These wird ausführlich entwickelt und analysiert von dem israelischen Journalisten und Pulitzer-Preisträger Ronen Bergman. In seinem Buch "Steh auf und töte zuerst", das Attentate der israelischen Dienste über die Jahre beschreibt, weist Bergman eindeutig die Täter aus.
Laut seiner journalistischen Untersuchung hatte der damalige Premier Israels, Yitzhak Shamir, die direkte Verantwortung für den Tod von Gerald Bull, da er den Befehl zur Ermordung des Wissenschaftlers durch Mossad-Agenten genehmigte. Hatte der israelische Premier tatsächlich einen Grund dazu?
Gerald Bulls Weltraumgeschütz
Analysen des Potenzials des Geschützes Big Babylon zeigen, dass der Einsatz als Waffe mit einer Reichweite von sogar 1000 Kilometern möglich war, aber äußerst unpraktisch gewesen wäre. Dies ergibt sich daraus, dass aufgrund der großen Größe das Zielen mit dem Geschütz – selbst wenn ein Mechanismus zum Bewegen des Rohrs vorhanden gewesen wäre – sehr schwierig gewesen wäre.
Aufgrund seiner Ausmaße wäre die gesamte Installation zudem schwer zu verbergen und damit ein anfälliges Ziel für Luft- oder Raketenangriffe. Darüber hinaus würde der bloße Schuss sofort registriert werden, da er von seismischen Erschütterungen begleitet würde, die die Koordinaten der Anlage eindeutig anzeigen. Bulls Zusammenarbeit mit Hussein war jedoch nicht unbedeutend für Jerusalem: Die wirkliche Bedrohung für Israel war nicht das gigantische Geschütz, sondern die verbesserten irakischen Scuds.
Die Frage einer möglichen Nutzung der großen Geschütze zur Platzierung von Ladungen im Orbit bleibt unbeantwortet. Das Geschütz Baby Babylon wurde kurz nach der Operation "Desert Storm" von der UNO-Kommission zerstört, die die Entwaffnung des Irak überwachte.
Wenige überlebende Fragmente des Big Babylon-Geschützes wurden von britischen Behörden beschlagnahmt, bevor sie in den Irak verschifft werden konnten. Ein mehrmeterlanges Fragment des Rohrs, bestehend aus zwei Segmenten, kann unter anderem im britischen Royal Armouries Museum besichtigt werden.