Ukraine vor entscheidenden Kriegswinter: Kompromisse mit Russland?
Die Ukraine steuert auf ihren dritten Kriegswinter mit Russland zu, der sich laut dem deutschen Wochenmagazin "Der Spiegel" als der anspruchsvollste und entscheidendste für zukünftige Maßnahmen erweisen könnte. Erstmals wird in Kiew die Möglichkeit schwieriger Kompromisse mit Russland in Betracht gezogen, was sowohl auf die Erschöpfung der Gesellschaft als auch auf begrenzte militärische Ressourcen zurückzuführen ist.
"Der Optimismus, den der ukrainische Vorstoß auf russisches Territorium bei Kursk im August bei vielen im Land ausgelöst hatte, ist verflogen, obwohl die Ukrainer Teile der Region weiterhin besetzt halten", bemerkt "Der Spiegel". Der Krieg, der beide Seiten stark beansprucht, scheint die Verteidiger mehr zu belasten, deren Entschlossenheit und Ressourcen schwinden.
"Der Krieg nagt an beiden Seiten, am Aggressor und am Verteidiger. Doch im Augenblick sieht es so aus, als könnten der Ukraine zuerst Kraft, Wille und Ressourcen ausgehen. Die Soldaten sind erschöpft, die Gesellschaft wird kriegsmüde. Es regt sich in der Bevölkerung zunehmend Kritik am Präsidenten und seinem mächtigen Stab", schreibt das Wochenmagazin.
Reicht die westliche Unterstützung nicht aus?
Obwohl die westlichen Verbündeten nicht planen, die Ukraine in naher Zukunft fallen zu lassen, sieht man laut "Der Spiegel" keine ausreichenden Perspektiven für eine Stärkung Kiews, die effektive Offensivhandlungen ermöglichen würde. Das Magazin weist unter anderem auf die vorsichtige Politik der USA hin, wo Präsident Joe Biden der Ukraine weiterhin keine Erlaubnis für den Einsatz amerikanischer Waffen zur Beschießung von Zielen auf russischem Gebiet erteilt.
"Sollte am 5. November Donald Trump gewählt werden, der sich damit gebrüstet hat, diesen Krieg »binnen 24 Stunden« beenden zu können, könnte sich die Lage der Ukraine verschlimmern. Allerdings erwarten die Ukrainer auch von der demokratischen Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris keine Wunder", schreibt "Der Spiegel". Ein hochrangiger ukrainischer Beamter gab anonym dem Magazin gegenüber zu: "Egal ob Trump oder Harris, die Amerikaner werden sich langsam, aber sicher zurückziehen".
Ukrainische Moral und Kompromissszenarien
Obwohl in der Ukraine weiterhin Diskussionen über die Möglichkeiten der Fortsetzung des Kampfes geführt werden, beginnt die gesellschaftliche Akzeptanz für einen lang anhaltenden Krieg zu schwinden. Zum ersten Mal seit Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 werden in Kiew offen Szenarien diskutiert, in denen die Ukraine darauf verzichten könnte, alle besetzten Gebiete zurückzuerobern, was die Abtretung von bis zu 20 Prozent des aktuell besetzten Territoriums bedeuten könnte.
Ein Gesprächspartner des Magazins räumte ein, dass es notwendig sei, frühere Annahmen zu überdenken. "Wir haben geglaubt, dass der Sieg die bedingungslose Kapitulation von Putins Russland sein muss" - gestand er ein. Er betonte, dass ein mögliches Abkommen auch die Interessen Russlands berücksichtigen müsse.
Soziale und militärische Spaltungen
Der militärische Stillstand macht sich nicht nur an der Front, sondern auch in der sozialen Stimmung und in der Armee bemerkbar. Der Kreml opfert viel russisches Blut für jeden Quadratkilometer der Ukraine. Laut "Der Spiegel" betragen die Verluste auf russischer Seite 200.000 Soldaten, während die Ukraine etwa 80.000 Menschen verloren hat.
Zusätzliche Risse sind auch innerhalb der Ukraine sichtbar. Das Magazin betont, dass "in der Ukraine Zehntausende tote und verletzte Zivilisten, Vermisste und Gefangene [gibt]". Außerdem haben viele Millionen Bürger beschlossen, ins Ausland zu flüchten. Der Staat scheint nicht nur durch den Krieg, sondern auch durch seine sozialen Folgen erschöpft zu sein, wie eine hohe Scheidungsrate und eine niedrige Geburtenrate. "Das Land blutet aus", stellt das deutsche Magazin bildhaft fest.
Verschiedene Perspektiven junger Menschen und "kämpfende Patrioten"
Trotz des Rückgangs der gesellschaftlichen Begeisterung gibt es in der Ukraine Kräfte, die entschlossen sind, den Kampf unabhängig von der Lageentwicklung fortzusetzen. Wolodymyr Fessenko, ein Kiewer Politologe, bezeichnet diese Gruppe als "militanten Patrioten" und schätzt, dass sie etwa ein Drittel der Gesellschaft ausmachen.
"Der Spiegel" betont, dass genau solche Spaltungen für Präsident Wolodymyr Selenskyj eine erhebliche Herausforderung darstellen könnten, falls er sich entscheidet, ein Abkommen mit dem Kreml anzustreben.
Auch in der Armee gibt es unterschiedliche Ansichten. Ein ukrainischer Offizier, Andrij Nazarenko, äußerte die Ansicht, dass mittelfristig ein Waffenstillstand nicht ausgeschlossen ist, obwohl er nicht an einen dauerhaften Frieden glaubt. "Uns allen ist klar, dass wir bereit bleiben müssen", betonte der Ingenieur, der seit Februar des vergangenen Jahres fast ununterbrochen im Einsatz ist. "Der Feind wird nicht haltmachen, egal welche politischen Vereinbarungen es gibt. Es kann eine Pause von drei oder vier Jahren geben, danach geht alles weiter", stellte er fest.